Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Triebwerk“ hören oder lesen? An ein Flugzeug mit seinen Turbinen vielleicht? An eine Dampflokomotive, ein Auto oder doch eine Rakete? Die Auswahl ist groß, allein das Online-Wörterbuch „Linguee“ listet mehrere möglichen Varianten auf:
Das alles ahnte mein langjähriger Kunde, ein Hersteller von komplexen Antriebssystemen für den Schiffsbau, nicht, als er den Begriff „Triebwerk“ zusammen mit der russischen Übersetzung „силовая установка“ in seine Terminologiedatenbank eintrug. Der russische Begriff bedeutet in etwa „Kraftanlage“ oder „power plant“ und so benutzte ich diese Vorgabe des Kunden jahrelang in meinen Übersetzungen. Warum? Das Wort „Triebwerk“ stand stets als einzelner Punkt in einer Wartungsliste ohne jeglichen Kontext und die strikte Befolgung der Kundenterminologie gehört schon immer zu den Grundvoraussetzungen unserer Zusammenarbeit.
Alles war gut, bis sich der Kunde eines Tages bei mir meldete und meinte, er hätte früher mal Russisch studiert und zweifele nun an der Richtigkeit der Übersetzung. Als Erklärung fügte er bei, dass das Wort „Triebwerk“ in diesem Fall als Oberbegriff für alle an der Kraftübertragung beteiligten Komponenten eines Dieselmotors verwendet würde. Es sei der grundlegende Mechanismus der Kraftübertragung, beginnend vom Kolben, über die Pleuelstange bis hin zur Kurbelwelle. Somit war es klar: Die Übersetzung „силовая установка“ war absolut unpassend. Allerdings konnten wir auf Anhieb keine bessere Übersetzung finden.
Deshalb machte ich mich an die Recherche durch einschlägige Normen zum Thema Verbrennungsmotoren sowie durch Paralleltexte auf Deutsch und Russisch. Ich stellte fest, dass auch in den branchenspezifischen offiziellen Dokumenten das Wort „Triebwerk“ entweder umschrieben oder einfach als „Motor“ übersetzt wird, was natürlich keine zufriedenstellende Lösung ist, wenn man im Text einen präzisen Begriff braucht und terminologisch zwischen „Motor“ und „Triebwerk“ differenzieren muss.
Der nächste Anhaltspunkt war die in Russland geltende Klassifikation für Verbrennungsmotoren, die zwischen zwei grundlegenden Mechanismen unterscheidet: „кривошипно-шатунный механизм“ und „газораспределительный механизм“. Der zweite Begriff entspricht der Motorsteuerung und der Erste steht vermutlich für das Triebwerk in der vom Kunden gewünschten Bedeutung.
Die Bestätigung lieferte schließlich ein Wikipedia-Artikel zum Thema „Hubkolbenmotor“:
Die russische Übersetzung passte exakt, obwohl man es auf den ersten Blick nicht vermutet hätte. Der gesuchte Begriff „Kurbeltrieb“ war viel enger gefasst als das ursprüngliche „Triebwerk“. Erst dadurch wurde eine passgenaue Übersetzung möglich. Hätte der Kunde von Anfang an die umfassende Erklärung (also den Kontext) geliefert, wäre dieses Missverständnis erst gar nicht entstanden. In diesem Fall konnte der Fehler entdeckt und behoben werden. Der Kunde war glücklich, bedankte sich vielmals und änderte den entsprechenden Eintrag in seiner Datenbank. Wir beide haben etwas gelernt.
Doch wie viele Fehler bleiben unentdeckt, weil der ursprüngliche Text mehrdeutige Formulierungen enthält und während der Übersetzung nicht extra nachgefragt wird? Freuen Sie sich über Rückfragen und liefern Sie Ihrer Übersetzerin so viel Kontext wie möglich, denn hinter jedem Fachbegriff steckt eine aufwändige Recherche. Trotz vorhandener Fachkenntnisse ist diese Recherche oft notwendig, um das passende Konzept in der jeweiligen Sprache zu finden und die Inhalte Ihrer Texte so wiederzugeben, dass sie auch bei den Leser:innen richtig ankommen. Und wenn dank Klärung von Übersetzerrückfragen auch die Originaltexte verbessert werden können, dann ist es eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Die Fachübersetzer:innen können ihren Job noch besser machen und Sie als Kunde bzw. Kundin bekommen qualitativ hochwertigere Texte in allen Sprachen.
Zur Autorin:
Dipl.-Ing. (FH) Olga Scharfenberg-Dmitrieva arbeitet seit über 23 Jahren als selbständige Fachübersetzerin mit Schwerpunkt Technik und Arbeitssprachen Deutsch, Englisch und Russisch. Als ausgebildete Technische Redakteurin ist sie eine Expertin im Bereich der Technischen Dokumentation und bietet hier ein Komplettpaket an Sprachdienstleistungen, inklusive Übersetzungsmanagement.